Ein Reisebericht von Klaus Haase – September 2007

Vier Tage in Palombaio

Sonntagmorgen. Mein telefonino klingelt: Ich bin gerade gelandet, sagt mir eine vertraute Stimme. Viertel nach acht.  Es ist Conrad. Aber du solltest doch erst um neun ankommen! Wir kommen sofort, rufe ich und lege auf. Ich sitze mit Franco Cuonzo am Frühstückstisch (mir gefällt das Wort und seine Ausstrahlung; in Italien sitzt man ja in der Regel morgens nicht lange am Tisch und frühstückt, wenn überhaupt), in zwanzig Minuten wären wir zum Flughafen Bari-Palese aufgebrochen.

Gestern noch bin ich in der Basilikata gewesen. Eine Region, auch Lukanien genannt, die wie nachträglich dazwischen gesteckt zwischen Apulien und Kampanien/Kalabrien, dem Adriatischen, dem Tyrrhenischen und dem Ionischen Meer liegt. Ich bin dort vor vielen Jahren gewesen und wollte den Monte Vulture,  einen erloschenen siebenkegligen Vulkan von über tausenddreihundert Metern besuchen.

 


Die ganze Stadt atmet Horaz

Ich bin wieder in Venosa gewesen, der Heimatstadt des römischen Dichters Horaz  („Carpe diem, quam minimum credula postero!“ „Nutze diesen Tag, nimmer trau dem nächsten!“). Ich bin zu den Monticchioseen gefahren, habe das Friedrichsche Kastell von Lagopesole  besucht und Melfi  gesehen.

Conrad kommt uns im Flughafengebäude entgegen. Er will keinen zweiten cappuccino mehr, Franco fragt ihn Fahren wir sofort auf den Olivenhain? Ja, warum nicht. Conrad ist gespannt, die Umbauarbeiten zu sehen, die Ramazan und seine Mitarbeiter in der großen Augusthitze vollbracht haben. Wie Ottavio, unser Architektenfreund aus Bitonto, immer wieder bestätigt: die Albaner sind die besten Steinmetze Apuliens. Dass er Recht hat,  können wir wenig später sehen:

Conrad – Franco – Ramazan
der "neue" Trullo

Am Eingang begrüßen uns zwei Tuffsteinpilaster, die ihrem Erscheinungsbild nach aus Zeiten der italienischen Einigung stammen könnten. Nur unser Trullo, an dessen beiden Seiten Steine herabgestürzt waren, sieht aus wie neu. Habt ihr einen anderen da hin gesetzt, fragen wir scherzhaft. Nein, nein,  ihr werdet sehen, sobald es regnet, bekommt er sein Grasdach wieder, antwortet Ramazan.

Am Mittag treffen wir Letizia wieder, die jüngste der drei Töchter Francos.


Michele – Marzia – Letizia

Endlich sehen wir das erste Enkelkind Francos, die kleine Marzia, seit 2 Monaten auf der Welt. Auch Michele, ihr Mann, mit dem sie im Herzen Palombaios wohnt,  ist mitgekommen.

Du siehst, sagt Conrad zu mir, Franco wird genau so, wie wir es ihm im Juni vorausgesagt haben.
Ja, er spielt gern den harten Burschen, antworte ich, doch die kleine Marzia wird ihn weich klopfen.
Unsere kleine Gästewohnung bei Franco liegt auf dem großen Grundstück seines Anwesens, wir passen uns den uns umgebenden Gepflogenheiten  an und machen bis fünf Mittagspause.

Ramazan, der Baumeister,  holt uns ab und wir fahren noch einmal zum Oliveto Palombaio I, um Fotos zu machen und zu überlegen, welche der vielen in Frage kommenden Heiligenfiguren wir in den Nischen der Eingangspilaster aufstellen wollen. Es bieten sich an: Padre Pio vom Gargànoberg, der erst vor knapp vierzig Jahren in San Giovanni Rotondo starb und zweitausendzwei vom polnischen Papst heilig gesprochen worden ist. Padre Pio ist ein Wundertäter,  der mit Hilfe von Spenden den Bau des größten und am besten ausgestatteten Krankenhauses in Süditalien verwirklichte. Er ist neben dem heiligen Franz von Assisi der Nationalheilige Italiens, dessen Abbild überall,  auch an Autofenstern, Werkstattwänden und Schaufenstern zu sehen ist.

Der zweite Heilige ist San Nicola, der heilige Nikolaus, der uns in Bari mit seltsam ungewohntem Aussehen begegnet, kennen wir ihn doch eher mit rotem Mantel und langem, weißen Bart, während er sich in Bari als Südeuropäer präsentiert und sich selbst Vermutungen hartnäckig behaupten, er komme aus Nordafrika! Des Nikolaus Gebeine sind  hingegen aus Myra,  an der türkischen Südküste gelegen, von Bareser Seeleuten Ende des Elften Jahrhunderts gewaltsam entfernt und nach Bari gebracht worden mit dem Ergebnis, dass die Stadt neben dem Gargano zum wichtigsten Pilgerzentrum Apuliens wurde. Auch Nikolaus ist ein Taumaturg, ein Wundertäter, dessen Legende sich in den nachfolgenden Jahrhunderten über Europa bis zum amerikanischen Kontinent ausbreitete.

Die dritte Möglichkeit sind die Santi Medici, Cosma und Damiano; sie sind,  wie so oft in Apulien, Heilige griechisch-arabischen Ursprungs.

Cosmas und Damian waren Zwillingsbrüder und wurden um 260 n.Chr. geboren. Geld nahmen die beiden Ärzte und Apotheker aus Kilikien in Kleinasien bei der Anwendung ihrer Heilkunst aus christlicher Überzeugung nicht an, was ihnen schnell den griechischen Beinamen "anargyroi" ("die umsonst arbeiten") einbrachte. Ihre Fähigkeit zu heilen führten sie auf das Wirken Gottes zurück, an dem sie nicht profitieren wollten. Mit überwältigendem Erfolg führten sie  riskante medizinische Operationen durch.  Es wird sogar erzählt, dass sie ein Bein transplantiert haben sollen. Kein Wunder also, dass die Brüder viele Nichtchristen bekehrten. Dies wiederum gefiel im ausgehenden 3. Jahrhundert den römischen Machthabern unter Diokletian überhaupt nicht, Bekehrung war während der Christenverfolgung lebensgefährlich. So starben beide 303 den Märtyrertod durch Enthauptung.

Die Überzeugungskraft der Zwillinge war offensichtlich sehr stark, und die mörderische Absicht ihrer Verfolger entsprechend intensiv und konsequent. Jedenfalls entwickelte sich nach dem Tod von Cosmas und Damian die Legende, dass die beiden erst dann enthauptet wurden,  nachdem Ertränken, Verbrennen, Durchlöchern und Steinigen nicht zum tödlichen Ziel geführt hatte. Und es entwickelte sich in den Jahrhunderten nach ihrem Tod eine weit verbreitete Verehrung der Brüder. Nach Süditalien brachten die Basilianermönche – die vom Balkan vor den Ikonoklasten, den Bilderstürmern,  geflohen waren –  den Kult um Cosmas und Damian. Vom XVII. Jh. an sind sie die Schutzheiligen der apulischen Städte Bitonto und Alberobello (in Deutschland vor allem in Essen, Hildesheim und München) und werden dort besonders verehrt.

Zwei alte Bauernregeln lauten: "St. Kosmas und St. Damian / fängt das Laub zu färben an." "Der Kosmas und der Damian, / die zünden alle Lichter an."

Warum diese Geschichte mit den Heiligen am Eingangstor? Wir wissen nicht nur von Franco Cuonzo, dass das Land der endlosen Olivenhaine um Bitonto  zona franca  ist,  eine Art Wilder Westen, wo die Polizei nicht oder nur schwach präsent ist. Selbst Jägern, die laut Gesetz vier Monate lang im Jahr ihr Unwesen treiben dürfen, wird unterstellt, auf unsere wunderschönen Porzellanteller zielen zu wollen, die Giuseppe de Lia in seiner Werkstatt in Ruvo gefertigt hat und mit denen die Patenschaftsbäume geschmückt sind. Da in Apulien immer noch viele Menschen ihre Kraft aus der Verehrung der Heiligen schöpfen,  glauben wir, dass die Figuren am Eingang bewirken können, dass der Hain nicht oder weniger misshandelt wird.

Auf dem Rückweg machen wir wie am Vormittag Halt in unserer Bar am zentralen Platz in Palombaio, um einen aperitivo zu uns zu nehmen, wieder gelingt es Conrad nicht, die Rechnung zu begleichen, Franco ist  schneller.  Am Abend kommen Letizia mit Tochter und Mann zum Essen. Michele verblüfft uns: da gerade hier im Süden das klassische Bild des Macho  nur wenig  abgebröckelt ist, hören wir verwundert, dass Michele, Trainer in einem Fitnessstudio, die Hausarbeit macht, den Boden scheuert, den Kinderwagen durch Palombaio schiebt und sogar Wäsche im Freien aufhängt, was noch in Norditalien Verblüffung auslösen kann, wenn es durch männliche Hände geschieht.

Teresa, die älteste der drei Schwestern, ist im Augenblick in Albanien, wo sie für die Universität Bari an einem Projekt im Rahmen der Initiative Architekten ohne Grenzen teilnimmt. Angela, die mittlere, hat als erste geheiratet und lebt seit fast zwei Jahren hundert Kilometer nördlich in der Nähe von Foggia, wo der Hohenstaufe Friedrich II., König von Sizilien und deutscher Kaiser, seinen Königspalast bauen ließ, von dem heute außer einem Torbogen nichts mehr übrig ist.

Am Abend ruft Franco de Vanna, unser langjähriger Freund von der Polizia municipale, der städtischen Polizei,  an. Auch er ist am Vormittag am Flughafen gewesen und hatte uns bei sich und seiner Frau Nicoletta zum Abendessen erwartet. Er ist ungehalten, doch ich kann ihn beruhigen, indem ich ihm sage, dass wir uns morgen abend alle am Meer, entweder in Giovinazzo oder in Santo Spirito, zum Abendessen treffen wollen. Das ist nicht das erste Mal, dass es in diesem Punkt Missverständnisse gibt. Sag Franco und den anderen, insistiert Conrad vor jeder unser kleinen Apulienfahrten, sie sollen nichts für uns organisieren, keine Abendessen, keine Treffen. Wir haben immer viel zu tun, wenn wir hier sind; wenn Zeit übrig bleibt, können wir das gerne machen.

Durch ihre lange und abenteuerliche Geschichte von Fremdherrschaften sind die Menschen hier aus anderem Holz geschnitzt: Freundschaft und Familie sind allerhöchste Güter, in sie wird alle Energie, Tatkraft und Anstrengung investiert; der Rest bleibt im Bereich der großen sozialpolitischen Gleichgültigkeit oder verkehrt sich in Abwehr, Angst und Aggression.

Es ist Montagmorgen, wir trinken einen von Franco zubereiteten cappuccino und essen eine brioche, ein Croissant, wie es zu deutsch heißt. Wir sind mit Franco de Vanna verabredet, sollen ihn an seiner Haustür in Bitonto abholen, um dann zu einem Herrn Mancazzo zu fahren, der uns eine Ölpresse verkaufen soll, die wir schon bei unserem letzten Besuch im Juni ausgesucht haben, und ein altes steinernes Mühlrad, das auf dem Hain zum Picknicktisch umfunktioniert werden soll. Vorher, sagt Franco de Vanna zu Conrad, als wir im Auto sitzen, schauen wir uns einen FIAT 500 an, du willst doch einen?  Klar, fahren wir los! 


Franco de Vanna  im  Dienst

Es geht in Richtung Meer, das nur wenige Kilometer entfernt ist. Franco dirigiert mich in die Einfahrt eines kleinen Firmengeländes, einer Tischlerei, wir steigen aus. Der Besitzer ist ein Liebhaber von Oldtimern, sagt Franco. Und da steht das Auto, klein, mit Schiebedach, aus erster Hand und sehr gut gepflegt, Baujahr 1971, ein Grund mehr für Conrad, den Kauf sofort abzuschließen, denn auch sein erstes Auto damals im alten Westberlin  war ein solcher FIAT 500, gleiches Baujahr.

Wir kommen zu den Plantagen Herrn Mancazzos, fünfzig Hektar weit, wo vor allem Wein und Kiwi angebaut werden. Ich rufe Ramazan an, er kommt, Ottavio,  der Architekt, hat keine Zeit, er ist auf einer Baustelle. Wir zeigen Ramazan das steinerne Mühlrad und die alte Olivenpresse, beides soll auf den Olivenhain gebracht werden. Das ist kein Problem, ich kann es  mit meinem Lastwagen transportieren, sagt Ramazan, der mit Vornamen Spahiu heißt; in Erinnerung an den moslemischen Fastenmonat können wir uns  aber Ramazan besser merken.

Endlich kommt Angelo Mancazzo auf den Hof gefahren. Wir setzen uns im Schatten auf eine Bank, Mancazzo lässt seine schwarze Sonnenbrille trotzdem auf, man sieht seine Augen nicht; in deutschen Seifenopern würde man ihn sicher gern als mafioso  verpflichten, nicht nur wegen seiner Sonnenbrille. Conrad spricht über artefakt, über die Ausschaltung des Zwischenhandels, über den sich Angelo beklagt. Es ist Mittag, Angelo lässt uns von einem Mitarbeiter frische Essoliven bringen, die kurz in der Pfanne erwärmt werden und mit Salz und Öl serviert werden können. Conrad bestellt hundert Kilo für das Wilstedter Fest am vierzehnten Oktober. Ob wir das Mühlrad bekommen, ist noch nicht klar, es sei schon einem Freund versprochen, man werde sehen, ob sich noch etwas machen lässt. Wir sind unhöflich,  lehnen die Einladung zum Mittagessen ab und fahren statt dessen mit Franco de Vanna nach Bitonto zurück. Franco, frage ich unseren Polizisten, ist der Mancazzo ganz sauber?

Nun, antwortet Franco von der Hinterbank, auf die er sich freiwillig zurückgezogen hat, er hat im Zentrum Bitontos einen großen Wohnblock, in dem er die Hälfte aller Räume an die Polizei, die polizia,  vermietet hat. Und die ziehen ja nicht bei jedem ein. Aber noch was anderes, wir müssen noch mal bei dem falegname, dem Tischler mit dem FIAT,  vorbei,  wegen der Bankdaten. Detto, fatto,  gesagt, getan.

Kennst du ein kleines Lokal, wo wir eine Kleinigkeit, sagen wir mal, nur einen Primo essen können,  fragt Conrad Franco, als wir vor dessen Haus stehen. Ma che ristorante, wir gehen hoch, Nicoletta freut sich, wenn ihr kommt. Dann probieren wir die neuen Oliven!  Wir geben klein bei.

Das Essen ist großartig, Franco und Nicoletta sind am Samstag erst aus Andalusien zurückgekommen, wo sie mit Rotalis, einem deutschen Reiseunternehmen, das sich auf Radurlaub spezialisiert hat, den Süden Spaniens per Rad bereist haben. Franco ist ein großer Bewunderer der deutschen Organisationskunst; auch andere preußische Eigenarten liebt er,  wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, Dinge,  die in Apulien nicht immer auf der Tagesordnung stehen.

Um halb drei sage ich zu Conrad: Wir müssen los, Franco Cuonzo will doch mit uns zur Bank nach Mariotto fahren und die machen um halb vier zu und wir sind verabredet.  Unterwegs telefoniere ich mit Franco und erfahre, dass man uns zum Essen erwartet habe. Au weia!  Tut mit leid Franco, sage ich in mein Handy, daran haben wir nicht gedacht. Als wir sagten, wir kommen gegen eins zurück, dachten wir nicht daran, dass in deinen Gedanken das Mittagessen eingeschlossen war. Wir sind eben Barbaren, Nordländer, Normannen sozusagen.

Es gibt noch eine freundschaftliche Rüge, als wir auf seinem Anwesen in Palombaio ankommen, dann fahren wir nach Mariotto,  fünf Kilometer weiter ins Landesinnere der beginnenden hügeligen Murgelandschaft. Auch Mariotto, ein Dörfchen von zweitausend Einwohnern, gehört wie das ebenso  kleine Palombaio verwaltungstechnisch zu Bitonto.

Das ist Conrad Bölicke, stellt Franco Conrad der Leiterin der kleinen Bankfiliale vor. Die Kontoeröffnung kann noch nicht erfolgen, weil wir die italienische Steuernummer Conrads nicht dabei haben, Franco schwingt sich in sein Auto und wir unterhalten uns mit Daniela,  so heißt die charmante Bankchefin, die die schwäbische Stadt Herrenberg  gut kennt und deutsch spricht, bis Franco wieder da ist und alles abgewickelt werden kann. Den Besuch bei einem scatolificio, einer Kartonfabrik in Modugno, einem sehr unwirtlichen Industrievorort von Bari,  wo demnächst die bag-in-box-Behälter  fabriziert werden sollen, verschieben wir auf morgen früh.

Es ist schon dunkel, halb sieben, eine halbe Stunde früher als in Ravenna, mehr als eine Stunde früher als in Köln. Franco de Vanna dirigiert uns, ich bin fest davon überzeugt, dass wir zu den Damen des Premio Leonardiano fahren (mehr davon später), aber die Strasse führt aus der Stadt hinaus in die Olivenhaine, die auch zwischen Bitonto und dem Meer zahlreich sind. Manchmal ist Franco de Vanna geheimnisvoll, unser Vertrauen in ihn ist jedoch immens. Irgendwann halten wir vor einer von Palmen flankierten Wohnanlage, es könnte ein Bildungszentrum sein. Wir stellen den Wagen ab. Das ist das eurocampus, sagt Franco, Dr. Abbatticchio, der Leiter der Einrichtung,  wird  gleich auf all unsere Fragen antworten. Wir nehmen im Arbeitszimmer des dottore  Platz; nach und nach erfahren wir von ihm die Geschichte und das Wirken des Institutes.

Sein Vater, ein Europarlamentarier, hat es gegründet, in der Vergangenheit kamen Schüler europäischer Berufsschulen hierher, um einige Wochen lang an beruflichen Fortbildungskursen teilzunehmen, vor allem Schulen aus Spanien und Griechenland. Im Januar des kommenden Jahres wird im Internet ein bando erscheinen, eine Ausschreibung des Landes Apulien, in der Projekte ausgeschrieben sind, die entweder Investitionen sind, die zu fünfzig Prozent gefördert werden oder Berufsbildungskurse für Studenten von Berufschulen, Höheren Handelsschulen, aus dem Tourismus-, Umwelt- und Hotelfachschulenbereich. Diese Studenten werden dann eine Woche lang untergebracht, von Übersetzern und Reiseleitern betreut, sie werden bekocht und an Nachmittagen macht man  touristische Ausflüge in die nähere Umgebung, zum Castel del Monte zum Beispiel, nach Bitonto, nach Bari, nach Trani etc. Das alles startet im kommenden Januar nach dreijähriger Pause, die auch für Renovierungsarbeiten genutzt wurde.

Conrad erzählt von den dreiwöchigen Praktika der Bitontiner Schüler vom ITC in  Berlin, er berichtet von unserem Sonnenenergieseminar mit Schülern des De Deo Gymnasiums Minervino. Wir stellen fest, dass es einige Schnittpunkte in unseren Aktivitäten gibt und im Januar werde ich mit Letizia  diesen bando  mal durchforsten.

Es ist schon acht, als wir uns verabschieden. Wir müssen nach Bitonto zurück, um Nicoletta abzuholen. Franco de Vanna hatte heute Mittag bereits einen Tisch im Restaurant Cantagallo in Giovinazzo bestellt, wir haben auch Ottavio mit seiner vielköpfigen Familie eingeladen, Franco Cuonzo hat leider einen anderen Termin, Letizia und Michele sind mit Marzia beschäftigt.

Zaubere das,  was du kannst, sagt Franco zum jungen Chef des Ristorante.  Er kennt  dessen Vater seit langer Zeit und ich  beobachte Franco, wie er dem jungen Mann zu verstehen gibt, wie wichtig auch für ihn heute abend eine hervorragende Küche sei, schau auch darauf, dass der Preis angemessen ist.  Es wird ein paradiesischer Abend, wir bleiben bis weit nach Mitternacht.

Dienstagmorgen, es regnet nicht mehr, gestern hat es den ersten Regen seit langer Zeit gegeben, Franco hat kommentiert, so komme er gerade richtig, nicht sturzbächig, sondern gemäßigt, aber  kontinuierlich, ohne viel Boden davon zu schwemmen. Finalmente piove!  Endlich regnet es, hat er fast glücklich ausgerufen, als die ersten Regentropfen herunterkamen, das wird den Oliven gut tun, farà bene alle olive! Ne hanno bisogno, ne hanno bisogno!  Die brauchen das  jetzt!

Wir frühstücken bei Franco, wenig später sitzen wir in seinem dunkelgrünen Jeep und fahren nach Modugno. Bei der Firma Benedetti empfängt uns Herr Scarpetta, zu deutsch Schühchen, der uns zwanzig Minuten mit einer alten Geschichte quält, einer Rechnung, die Artefakt vor zwei oder drei Jahren nicht bezahlt hatte, weil die Lieferung zu spät angekommen war. Ich muß Conrad zwischendurch beruhigen. Wären wir in Deutschland, ich wär schon längst aufgestanden und gegangen, sagt er zu mir. Schließlich erfahren wir, dass Benedetti gar keine bag-in-box fertigt, netterweise gibt uns Scarpetta zwei weitere Adressen in Bitonto.

Ich schau auf die Uhr: Halb elf, hast du gesagt, Franco, sollen wir bei den Incoming Damen sein? Ja, antwortet er, wir fahren sofort dahin und nachher zu den bag-in-box-Firmen.

Wir betreten ein kleines Büro mitten in Bitonto nahe der Wallfahrtskirche der SS. Medici, die aus den Siebziger Jahren stammt und auch so aussieht. Vor uns stehen Josefine und Maria, zwei attraktive Damen, die seit drei Jahren ihr kleines Unternehmen  führen, das sich auf touristische Serviceleistungen innerhalb des IncomingNetzwerks spezialisiert hat. Doch nicht nur das: zum zweiten Mal verleihen sie mit Hilfe von Bitontiner Sponsoren im Rahmen ihrer Organisation einen Premio, einen Preis, der den stolzen Namen Premio Leonardiano trägt, nach Leonardo da Vinci. Für diesen Preis werden Mitbürger vorgeschlagen, die sich in irgendeiner Art um Bitonto verdient gemacht haben, sei es in Kultur und Kunst, sei es auf anderen Gebieten. So haben Conrad und ich vor einigen Wochen erfahren, dass die beiden Francos ihn für den Premio Speciale vorgeschlagen haben. Dieser Preis wird am fünfzehnten Dezember in einer feierlichen Gala im Stadttheater Bitonto verliehen.
Es entsteht ein lebhaftes Gespräch, Josefine spricht gut deutsch, da sie in Nürnberg geboren ist und nicht nur die Burg, sondern auch den Christkindlmarkt und die berühmten Lebkuchen gut kennt. Wir entdecken, dass es Gemeinsamkeiten in unseren Tätigkeiten gibt und verabreden eine engere Zusammenarbeit.
Die beiden scatolifici haben wir schnell gefunden; beide machen bag-in-box-Verpackungen, beide werden uns Kostenvoranschläge schicken.

Es ist fast eins, als wir bei Franco ankommen. Wir entschuldigen uns bei Letizia und Michele, mit denen wir für zwölf Uhr verabredet waren, um ihren Tätigkeitsbereich für die nächste Zukunft abzustecken. Das machen wir morgen Vormittag, sagen wir, dauert nur eine halbe Stunde, da wird noch Zeit bis zum Abflug sein.
Wann geht denn die Maschine, will Letizia wissen. Um drei, wir müssen aber spätestens um halb zwei, zwei am Flughafen sein. Treffen wir uns um fünf, ich muß einige Telefongespräche führen, sagt Conrad zu mir nach dem Essen.

Wir brechen kurz nach fünf auf, dieses Mal mit meinem bescheidenen Uno. Wir wollen die Heiligenfiguren für den Hain in der Wallfahrtskirche kaufen, Conrad will für die kleine Marzia und für meine neunjährige Tochter Linda jeweils ein Geschenk kaufen; Linda hat er es versprochen, damit sie nicht mehr sauer auf ihn ist, der ihr den Papa immer dann entführt, wenn sie Geburtstag hat oder sonst ein großes Fest ansteht. Für Marzia soll es eine multifunktionale Spielkonsole sein, die sich bequem vom Bettchen bedienen lässt. Lass uns noch einmal vorher zum Hain fahren und von dort aus die andere Strasse nehmen, schlägt Conrad vor. Wir wollen ausprobieren, ob es von Palo del Colle  eine Zufahrt zum Olivenhain gibt, die auch für große Busse mit fünfzig Plätzen erreichbar ist. Franco Cuonzo ruft an und teilt mir mit, dass Franco de Vanna uns bei sich erwartet, wegen des Fiat 500, wann wir in Bitonto ankommen? In zwanzig Minuten. Gut, ich sage es  ihm. Wir nehmen das Sträßchen, das vom Hain  zur anderen Seite führt, verfahren uns dann aber so gewaltig, dass wir irgendwann Schilder am Straßenrand lesen, die uns zu verstehen geben, wie  weit  wir uns in die falsche Richtung entfernt haben.

Entschuldige, Franco, wir haben uns total verfahren. Wir stehen vor der Tür seines Mietshauses in der Via Planelli. Kann passieren, antwortet er und zeigt sich großzügig, wie es in diesem Moment alle Bitontiner und Apulier täten. Wir betreten die SS Medicikirche, finden eine stattliche San Nicolafigur, aber keinen Padre Pio in gleicher Größe. Warum nehmt ihr San Nicola? Der ist von Bari, Cosmas und Damian sind die Schutzheiligen Bitontos, wirft Franco ein. Stimmt eigentlich, sagen wir und beauftragen Franco, in den nächsten Tagen Padre Pio in der richtigen Größe zu kaufen. Wir fahren noch einmal bei unserem Fiatverkäufer vorbei und begeben uns anschließend in eine Agentur im Zentrum, wie sie in dieser Form nur in Italien existiert, um den neuen Eigentümer Conrad Bölicke einzutragen zu lassen. Achtzig Euro.

Italien ist das Land in Westeuropa,  das den Tertiärsektor, den der vorwiegend privaten Dienstleistungen am meisten gedehnt hat. Es gibt immer Agenturen, die sich natürlich alles fürstlich bezahlen lassen, so auch die italienische Fahrschule, die um den Fahrschuldienst weitere Serviceleistungen gruppiert hat.
So, jetzt Spielwaren, giocattoli, sagt Franco, als wir alles erledigt haben. Hier bekommt ihr alles zum halben Preis! sagt er stolz. Come mai? frage ich, wie kommt das? Weil ich bei euch bin, antwortet er. Franco, komm,  sage ich gedehnt.
Wir erstehen die Konsole für Marzia und das Wörterspiel MaxiParoliere für Linda. Auf den Schildern sehe ich, dass der obere Preis rot durchgestrichen ist und weiter unten der halbe Preis angegeben ist. Franco, du bist nicht nur bei uns, sondern bei allen!  rufe ich ihm zu.

Es ist  bereits dunkel als wir zum Auto gehen. Gehen wir noch in eine Bar, es ist erst halb acht, zu früh, um schon zurückzufahren, schlägt Conrad vor. Gehen wir zu mir, so könnt ihr euch von Nicoletta verabschieden. Ja gut, aber nur kurz. Nun, wie das immer passiert, wir bleiben eine Weile und überlassen beim Aufbruch Franco einige Aufgaben, er soll einen Preis für das steinerne Mühlrad und die Olivenpresse aushandeln, muss noch den Padre Pio kaufen und einiges mehr. Wir probieren den neuen limoncello Francos, einen Zitronenlikör, der aus geriebener Zitronenschale, Alkohol und Wasser gewonnen wird und eigentlich nur dann genossen werden sollte, wenn das Bett nah ist.
Am Abend gehen wir früh schlafen; die Spielkonsole hat große Begeisterung bei den Eltern ausgelöst, wenn auch die Spiele so richtig nur mit Batterien funktionieren und die haben wir vergessen.

Letzter Tag, Mittwoch morgen. Wir packen sofort all unser Hab und Gut in mein Auto, das vor unserer Wohnung auf dem Hof steht. Ramazan erwarten wir um zehn Uhr, er soll seinen Kostenvoranschlag für die zu errichtende Picknickecke am Trullo vorlegen. Er wird ein niedriges Sitzmäuerchen um das Steinrad bauen und die Steine um den Trullo herum fortschaffen; irgendwann später wird er die Zisterne dichten und dort nebenan einen kleinen Parkplatz unweit des Eingangs anlegen.
Wir gehen zu Franco über die Freitreppe in den ersten Stock, wir sind soweit, gehen wir in die bar frühstücken? An der zentralen Piazza angekommen,  sagt Franco: Ah,  oggi è chiuso, è mercoledì!  Ah, heute ist zu, es ist Mittwoch!
Fahren wir nach Mariotto, ich will ohnehin Gebäck mitnehmen, sagt Conrad. Gut, antwortet Franco,  ich muß auch zur Bank, das passt. Wir gehen in die bar an der zentralen Piazza, die den besten caffè  zubereitet und nehmen eine brioche  dazu.
In Mariotto gibt es einen forno, eine Bäckerei, in der die langsamste Verkäuferin der Erde oder zumindest Westeuropas arbeitet. Sie ist in ihren Bewegungen langsam, doch nicht zeitlupenhaft gleich langsam;  sie hat eine Gesamtlangsamkeit, die sich mit Vorsicht, Genauigkeit und Zuverlässigkeit paart. Ich nehme an, es ist ein Familienbetrieb und sie ist eine der zwei oder drei Töchter, die dort arbeiten; wir haben da noch nicht nachgefragt. Während ich im Supermarkt nicht zu den Geduldigsten gehöre, fühle ich mich hier behaglich mit ihrer Langsamkeit. Sie arbeitet unbeeindruckt von äußeren Einflüssen, zum Beispiel wenigen oder vielen Menschen, die noch drankommen wollen. Ob Temperatur und Jahreszeit eine Rolle spielen können,  haben wir noch nicht untersucht.
Ich habe einige Tüten Taralli und Altamurabrot für morgen gekauft, Conrad läßt sich sein Mandelgebäck einpacken, wir treffen Franco auf der  zentralen Piazza und fahren zurück nach Palombaio. (Taralli sind Tischgebäckkringel aus Olivenöl, Wein und Mehl, das Hartweizenbrot aus Altamura ist berühmt in ganz Italien)

Wir sitzen in Francos Büro am Innenhof seines Anwesens und sprechen über die Vorbereitungen für November. Ramazan kommt pünktlich um zehn,  zusammen fahren wir noch einmal auf das Grundstück, um an Ort und Stelle festzulegen, was noch zu tun ist. Um elf ist die Besprechung mit Letizia und Michele. Wir verabreden mit ihr, dass sie Forschung betreiben soll über das Erwerbsleben der bäuerlichen Bevölkerung im 17./18. Jh. und die Geschichte des Trullo (der trulli) erforscht. Im November werden drei Gruppen nach Apulien  kommen und Letizia wird die Betreuung der Gäste übernehmen und auch auf dem Olivenhain Führungen machen. Wir sprechen über das große Einweihungsfest und Letizia macht den Vorschlag, dort dann so zu essen, wie es die Menschen vor hundert Jahren taten,  also bruschetta, Tomaten, Käse, Rotwein.


Ottavio in der Pro Loco Minervino

Um zwölf Uhr essen wir, dann klingelt es und Ottavio steht unten vor dem Tor, begleitet von einem Architektenkollegen. Er bringt die Datei mit dem Logo seiner Gruppo di Progettazione Ambientale di Bitonto, seiner Umweltprojektgruppe mit, das auf die Hinweistafel am Eingang des Hain gedruckt wird.
Am Mittagstisch sprechen wir scherzend über die mania di certificarsi,  den Zertifizierungswahn, der in Italien herrscht. Hier musst du dich selbst zertifizieren, deinen Daumen, die Füße, das Knie, alle möglichen Körperteile,  um zu beweisen, dass du du bist, sage ich. Conrad gibt lachend zu bedenken, dass wir im Grunde gar nicht wissen, ob der Mann, der sich schon seit Jahren für Franco Cuonzo ausgibt, wirklich Franco Cuonzo ist. Vielleicht sitzt ja im Keller gefesselt der richtige, der eigentliche Franco,  meint Letizia und lacht sich kaputt.

Conrad und Marzia
Die junge Familie mit Großvater

Um halb zwei fahren wir ab und erreichen den Flughafen zwanzig Minuten später. Dann sind wir wieder ungefähr zur gleichen Zeit zuhause, sage ich, denn es sind mit dem Auto (mit meinem Auto) sieben Stunden bis nach Ravenna. Ich werd ein bißchen länger brauchen, antwortet Conrad. Bis bald, sage ich, im Wasser liegende Mozzarella hast du ja diesmal nicht dabei, da wirst du keine Schwierigkeiten bekommen. Ruf mal an, wenn du auf der deutschen Autobahn bist.
Mach ich,  antwortet er. Beim check-in in Gesellschaft von hundert anderen Reisenden verabschieden wir uns. Einige Stunden später, ich bin gerade an der Wallfahrtskirche von Loreto  vorbeigefahren, da klingelt mein cellulare:
Alles gut gegangen,  frage ich, wo bist du ?
Kamener Kreuz und du?
Bei Ancona, noch zwei Stunden.
Ich brauch noch n bisschen mehr, bis bald im November…tschüss…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert