arteFakt trifft KATAPULT – ein Kennenlernen in Greifswald
Zum ersten Mal in Greifswald. Hinter uns ist die Hausnummer 7. Neben uns steht ein mit Gerüsten flankiertes Haus. Arbeiter tragen Baumaterialien und der Betonmischer dreht sich. Laut Navi sind es noch 50 Meter. Rechts sind Felder, links ein Wald. In der Ferne steht ein Gebäude, viel zu weit weg. Mehrfach laufen wir, Franziska und Jakob, an einer Baustelle vorbei. Sollte es dieses Haus sein? Im inneren fehlen die Fußbodenbeläge und die Wände sind im Rohbau. Wir sind skeptisch. Dann sehen wir den Zettel an einer Tür mit der knappen Aufschrift „hier lang“. Ist das die Antwort auf unsere Fragen? Wir folgen der Aufforderung und weiteren Schildern, bis wir schließlich eine Person treffen. Englisch und Deutsch helfen nicht – KATAPULT wird sofort verstanden. Wenige Schritte später sind wir in der Ukraine-Redaktion.
Das KATAPULT-Magazin in Greifswald ist vor allem bekannt für ihre knallbunten Grafiken über sozialwissenschaftliche Themen. Nachdem der Angriffskrieg in der Ukraine begann, hat sich das KATAPULT-Magazin Gedanken gemacht, wie es einen Beitrag leisten kann. Hierfür wurde flugs die Ukraine-Redaktion gegründet, um UkrainerInnen die Möglichkeit zu geben unabhängig über ihr eigenes Land zu berichten und ihnen dadurch eine Stimme zu geben. Die MitarbeiterInnen in der Redaktion haben ständigen Kontakt zu ukrainischen JournalistInnen vor Ort. Sie übersetzen die Berichte und veröffentlichen anschauliche Grafiken dazu. Von dem Projekt hatten wir aus einem Beitrag in der TAZ erfahren und uns entschlossen mit zu unterstützen. Mit unserem finanziellen Beitrag fördern wir den jungen Mediengrafiker Phillip Shikolay.
Phillip hebt für uns eine Bauplane hoch, wir krabbeln darunter durch und gelangen nach draußen. Erst als sich die erste Aufregung legt und wir am Gartentisch angekommen sind, fällt uns auf wie idyllisch und schön es hier werden wird und auch schon ist. Das Eis ist schnell gebrochen. Für seine 17 Jahre wirkt Phillip schon sehr erwachsen. Wir reden fast gar nicht über den Krieg, aber eine Aussage bleibt im Gedächtnis. Es wäre schon sein zweiter Krieg, beim ersten Mal sei es schlimmer gewesen. Denn die Familie floh bereits 2014 vor dem Krieg aus ihrer Heimatregion
Donetsk gen Westen und landete Anfang 2015 im deutschen Jarmen. Dort ging Phillip zur Schule und lernte Deutsch, seine Mutter fand schnell eine Arbeit und auch die anderen Geschwister gingen zur Schule oder machten eine Ausbildung. 2017 ging es gezwungenermaßen zurück, aber nicht ins Kriegsgebiet, sondern nach Boryspil in der Nähe von Kyjiw. Nach Ausbruch des Krieges zögerte die Familie nicht lange, am dritten Tag machten sie sich auf den Weg nach Deutschland. Alle? Nein! Dieses Mal konnte sein Bruder nicht mitkommen, weil er über 18 Jahre alt ist und eine Schwester nicht, weil sie ihren Mann nicht zurücklassen wollte. Die beiden Männer dürfen derzeit nicht ausreisen. Die Flucht dauerte drei oder vier Tage und war etwas schwierig für seine 89-jährige Oma. Über alte Kontakte konnten sie im ersten Monat bei verschiedenen Freunden oder Bekannten unterkommen. Seither mietet die Familie eine eigene Wohnung. Ein Mann läuft vorbei, er sieht beschäftigt aus und winkt freundlich. Phillip dreht sich um und sagt „Ach, das ist mein Vater. Er kümmert sich hier um die Grünanlagen.“ Sein Blick fällt auf einen abgezäunten Bereich, als er aufsteht und hinüber geht, folgen wir ihm. Als Ausgleich zur Produktion der gedruckten Zeitungen und Magazine von KATAPULT werden hier Bäume gepflanzt. Phillip zeigt uns einige noch sehr kleine Bäumchen, die er gerade erst eigenhändig gepflanzt hat. Während wir das Gelände abschreiten erzählt er, wo KATAPULT dieses Jahr im Juli ein Festival durchführen wird und lädt uns dazu ein.
Wir tauchen wieder unter der Bauplane durch. Der eine Teil des Gebäudes, einer ehemaligen Schule, wird aktuell von Flüchtlingen bewohnt, der Andere vom KATAPULT-Magazin genutzt. Wenn die Renovierung fertig ist, soll dies der Hauptsitz vom KATAPULT-Magazin werden. Wir lernen die Ukraine-Redaktion kennen, hier arbeitet auch Phillips Schwester Mascha als Journalistin. Schnell entstehen erste Ideen für gemeinsame Projekte, wir tauschen uns angeregt aus – und möchten, dass auch KATAPULT uns besser kennenlernen kann.
Unsere Probier-Sets l‘arte dell‘ oliva hatten wir als Gastgeschenke mitgebracht, die Redaktion war neugierig, wollte gleich davon kosten und so wurde es eine spontane Olivenöl-Degustation und wir erzählten über unsere Arbeit. Derzeit beendet Phillip online die Schule in der Ukraine und möchte danach studieren. Er zeigt uns am Computer was er bei KATAPULT als Grafiker macht, wie er arbeitet und welche Karten er selbst im aktuellen Ukraine-Buch erstellt hat. Voller Stolz zeigt Phillip uns insbesondere die Grafiken, die er nicht nur ausgeführt hat, sondern für die er auch selbst die Ideen hatte. Wir sind wirklich beeindruckt. Von Phillip. Von den Grafiken. Von der Leistung in so kurzer Zeit dieses Buch in einem neuformierten Team fertigzustellen. Auch wenn er hier schnell Anschluss im Volleyballverein gefunden hat, wenn der Krieg vorbei ist, möchte er wieder zurück in seine Heimat – nach Boryspil, nicht nach Donetsk.
Wir verlassen Greifswald mit einem gemischten Gefühl und es war gut, die Ukraine-Redaktion aus der Nähe, persönlich und analog kennengelernt zu haben. Phillip und seine Schwester Mascha haben wir eingeladen uns bald für einige Tage in Wilstedt zu besuchen, wer interessiert ist, kann dann gern mit dazu kommen, dazu in Kürze mehr.
16.06.2022
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